
Abschied von der Ökumene?
Deutschlands Protestanten scheinen das christliche
Verständnis der Weihe aufgeben zu wollen
Von Heinz Schütte
1981 wurde im lutherisch-katholischen Dialog auf Weltebene das
Dokument „Das geistliche Amt in der Kirche“ einstimmig angenommen. Darin ist
über den Ordo und die Ordination, die vom Zweiten Vatikanum als strittig
bezeichnet wurden, „fundamentale Gemeinsamkeit“ konstatiert. Wörtlich heißt es
im Dokument: Zeugnis, Gottesdienst und Dienst am Mitmenschen „sind dem gesamten
Volk Gottes aufgetragen. Jeder hat sein Charisma zum Dienst für Gott und an der
Welt wie zum Aufbau des einen Leibes Christi“ (13). Das von Jesus Christus mit
der Berufung der Apostel grundgelegte „besondere Amt war damals wesentlich – es
ist wesentlich in allen Zeiten und Verhältnissen“ (17). Der Amtsträger ist
„Diener Christi“, „Gesandter an Christi Statt“ (vgl. 2 Kor 1, 24 und 2 Kor 5, 1
8–20).
„Die Berufung zum besonderen Amt in der Kirche geschieht seit
apostolischer Zeit durch Handauflegung und Gebet.“ Dadurch wird dem Ordinierten
„die Gabe des Heiliges Geistes zur Ausübung seiner Sendung zugesprochen und
zuteil“ (32). Die katholische Tradition bezeichnet diesen kirchlichen Akt als
„Sakrament“. Die lutherische Tradition hat einen engeren Sakramentsbegriff; die
Anwendung des Sakramentsbegriffs au f das Amt wird lutherischerseits „nicht
grundsätzlich abgelehnt“ – wie die Apologie der „Confessio Augustana“ beweist (Apol
13, 11). „Unvereinbar mit diesem Verständnis von Ordination ist es für
Katholische wie Lutheraner, die Ordination nur als Art und Weise einer
kirchlichen Anstellung und Amtseinweisung zu verstehen“ (33).
Dienst an Wort und Sakrament ohne „Amtsgnade“?
Diese lutherisch-katholische Gemeinschaft auf Weltebene ist
von großer Bedeutung. Sie bedarf jedoch – wie die Gemeinsame
Rechtfertigungserklärung – der „Ratifizierung“ und Inkraftsetzung durch die
zuständigen Gremien, das heißt lutherischerseits durch Synoden,
katholischerseits durch den Papst beziehungsweise seine Beauftragten.
Evangelischerseits ist gerade in Deutschland eine solch
allgemeine Zustimmung allerdings fraglich. Damit befasst sind die Vereinigte
Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD), die Evangelische Kirche in
Deutschland (EKD) und die Evangelische Kirche der Union (EKU). „Allgemeines
Priestertum, Ordination und Beauftragung nach evangelischem Verständnis. Eine
Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD“: So lautet der Titel eines im
November 2004 von lutherischer Seite veröffentlichten Textes. Einleitend bemerkt
Oberkirchenrat Klaus Grünewald, dass „die VELKD das Thema Ordination
stellvertretend auch für die EKU und die EKD mit bearbeitet“. Im Text des
Papiers heißt es, das Verfahren sei „mit den zuständigen Gremien der EKD
abgestimmt“. Seit März 1998 ist das genannte Papier in Arbeit; ein 2002
vorgelegter Entwurf wurde vom Theologischen Ausschuss der Vereinigten
Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands überarbeitet und liegt nun –
empfohlen von der lutherischen Bischofskonferenz – vor. Bis zum 1. März haben
„alle Gliedkirchen der EKD“ – also nicht nur die Landeskirchen der Vereinigt en
Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands – die „Möglichkeit ...
zurückzumelden, ob der Text als Ausgangsbasis für ein gemeinsames
Ordinationsverständnis als geeignet angesehen wird und ob noch weitere
Änderungswünsche bestehen“. Es geht – wohlgemerkt – nicht nur um das
Ordinationsverständnis, sondern auch darum, „ob Prädikantinnen und Prädikanten
mit dem Auftrag zur Sakramentsverwaltung auch ordiniert werden sollen“.
In fast allen evangelischen Landeskirchen gibt es bekanntlich
die Praxis, Nicht-Ordinierte bloß zu beauftragen. Evangelische Theologen wenden
kritisch ein, dass Ordination damit als sozusagen überflüssig erachtet werde –
wenn die Ausübung des Dienstes an Wort und Sakrament auch ohne Ordination
geschehen könne, also ohne „Berufung, Segnung und Sendung“, wie sie in der
Ordination zuteil werden, also – um mit dem evangelischen Neutestamentler Ernst
Käsemann zu sprechen – ohne die „Amtsgnade“, die in der Ordination unter Gebet
und Handauflegung zuteil wird.
Im Neuen Testament wird Timotheus ermahnt: „Vernachlässige die
Gnade nicht, die in dir ist und die dir verliehen wurde, als dir die Ältesten
gemeinsam die Hände auflegten“ (1 Tim 4, 14), und: „Entfache die Gnade Gottes
wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteil geworden ist“ (2 Tim 1,
6). Timotheus soll „keinem vorschnell die Hände auflegen“ (1 Tim 5, 22).
Ökumenisch gesinnte evangelische Theologen fragen sich ebenso wie katholische
und orthodoxe: Geht es in Deutschland im Widerspruch zur Heiligen Schrift – die
ja gerade von evangelischer Seite stets als absolute Norm betont wird –, im
Widerspruch zur ökumenischen Praxis und zu den auf Weltebene verfassten
Dialogdokumenten, die sich auf Confessio Augustana 14 stützen, künftig –
biblisch gesprochen – auch unter „Vernachlässigung“ der Amtsgnade
beziehungsweise ohne diese?
Das ist keine nur katholische oder orthodoxe Kritik , wie ein
so genanntes „Minderheitenvotum“ von Frau Professorin Dorothea Wendebourg als
der Vorsitzenden des Theologischen Ausschusses der Vereinigten
Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands zeigt. Es ist im Anschluss an den
Mehrheitstext veröffentlicht und entspricht der üblichen Erklärung von Artikel
14 des Augsburgischen Bekenntnisses, wie sie auch einstimmig im
lutherisch-katholischen Dokument auf Weltebene „Das geistliche Amt in der
Kirche“ (1981) zum Ausdruck kommt.
Eine schwere Barriere für den weiteren Weg
Die Vorsitzende des Theologisch en Ausschusses der Vereinigten
Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands erklärt in ihrem Votum: „Ich stimme
dem Papier in seiner jetzt vorliegenden, überarbeiteten Form nicht zu. Die
entscheidenden Gründe dafür sind: 1. Das Papier widerspricht dem
evangelisch-lutherischen Bekenntnis. Konkret, es widerspricht, indem es Artikel
14 der Confessio Augustana nicht nur für die Ordination, sondern auch für davon
terminologisch wie sachlich unterschiedene beschränkte Beauftragungen mit
Predigt und Sakramentsverwaltung in Anspruch nimmt, dem Sinn eben dieses
Artikels. 2. Das Papier widerspricht sich selbst. 3. Das Papier hat zur Folge,
dass die gegenwärtige inkonsistente, für evangelische Gemeinden und Amtsträger
gleichermaßen undurchsichtige und auch ökumenisch unglaubwürdige Praxis bestehen
bleibt. Gerade so ist es nicht geeignet, den Veränderungen, die auf die
evangelischen Kirchen zukommen, in einer theologisch verantwortlichen Weise
gerecht zu werden.“
Frau Wendebourg erläutert diese ihre Gründe klar und
schlüssig. Man fragt sich verwundert: Sieht man selbst in Kreisen der Bischöfe
nicht ein, dass das Ergebnis der Mehrheit der Arbeitsgruppe vor dem
argumentativen Einspruch der Vorsitzenden des Theologischen Ausschusses nicht
bestehen kann, oder hat die Strukturdebatte mit dem Ziel Konzentration des
Protestantismus leider Blindheit – vor dem geltenden lutherischen Bekenntnis und
vor dem Scheitern der Ökumene – nach sich gezogen? Erkennt man nicht, dass der
nun von der Bischofskonferenz empfohlene Text der Einheit in der Wahrheit eine
schwere Barriere in den Weg legt, statt ihn zu ebnen? Ist Rücksicht auf die
orthodoxe und katholische Lehre nicht gänzlich unterblieben? Vor allem: Ist hier
nicht das von Jesus verheißene Wirken des Beistands, des Heiligen Geistes,
vergessen?
Im ökumenischen Dialog auf Weltebene ist klar betont, dass der
Ordo und die Ordination in der vom Heiligen Geist geleiteten Kirche zustande
kamen. In Dialogen auf Weltebene wurden Konvergenzen und sogar Übereinstimmungen
erzielt. Nun erfolgt – in Deutschland – eine unökumenische Kehrtwendung. Ein
2002 erschienenes Buch von Harald Goertz, das „im Auftrag der VELKD“
veröffentlicht ist, spricht sich sogar gegen die Ordination und nur für die
Beauftragung aus. Dazu schrieb ein evangelischer Bischof: „Wenn das von der
lutherischen Kirchenleitung nicht zurückgenommen wird, sind die im ökumenischen
Dialog gebauten Brücken wieder eingerissen, und ich sehe nicht, wie dieser
wieder in Gang gebracht werden kann.“
Man sage also nicht, „es gehe um eine innerprotestantische
Angelegenheit, aus der sich katholische Theologen heraushalten sollten“. Wer die
von Jesus Christus gewollte Einheit (Joh 17,21ff), die Versöhnung auf der
Grundlage der Wahrheit in höchster Gefahr sieht, kann und darf nicht schweigen.
Dorothea Wendebourg erklärt zutreffend, „dass die evangelischen Kirchen durch
ihre Praxis an diesem Punkt auch ökumenisch ganz und gar unglaubwürdig werden;
haben sie doch, wie es in dem Papier mit Recht heißt, ,in allen ökumenischen
Abmachungen mit anderen Kirchen unterstrichen ..., dass (in ihnen)
Abendmahlsfeiern stets von ordinierten Amtsträgern geleitet werden‘.“ Das steht
in der Tat auch im Dialogdokument der Evangelischen Kirche in Deutschland mit
der Anglikanischen Gemeinschaft (Meissen 1988) und im Dialogreport der
Evangelischen Kirche in Deutschland mit der Orthodoxen Kirche.
Man sage auch nicht: „Noch ist ja das Mehrheitsvotum nicht in
Geltung.“ Die lutherische Bischofskonferenz hat es immerhin „als Empfehlung
erlassen“, wie es in der Einführung heißt. Das Sondervotum von Dorothea
Wendebourg wird nur als „Minderheitenvotum“ registriert. Und: Wenn es brennt,
hat man sofort zu löschen, nicht erst alles abbrennen zu lassen mit der
Bemerkung, es sei ja ein Wiederaufbau möglich.
Bestehende Gemeinsamkeiten werden so beseitigt
Weder von orthodoxer, noch von katholischer, noch von
anglikanischer Kirche ist das Mehrheitspapier akzeptabel. Es widerspricht
vielmehr deren Lehren in absoluter Weise. Sollte es ab März 2005 von den
zuständigen Synoden beziehungsweise Gremien gebilligt werden, wäre das
gleichbedeutend mit einem „Abschied von der Ökumene“ im Sinne von Einheit in der
Wahrheit.
Ein Plädieren für mehr Ökumene ist unredlich und inkonsequent,
wenn man zugleich noch bestehende Gemeinsamkeiten beseitigt und damit die
Grundlage der Einheit unterminiert beziehungsweise aufgibt. Das würde auch
weitere ökumenische Kirchentage – in denen das Sehnen der noch getrennten
Christen nach Einheit kundgetan wird – zu einer bloßen Farce machen, wenn nicht
gar verbieten.
Frau Wendebourg nimmt in ihrem Sondervotum also die
katholischer- und orthodoxerseits fälligen Einwände vorweg. Eine Frage an den
Mehrheits- wie an den Minderheitstext ist allerdings noch zu stellen: Warum
enthalten sich merkwürdigerweise beide einer klaren Aussage über die in den
Pastoralbriefen erwähnte „Amtsgnade“, die ja „durch die Handauflegung zu teil
geworden ist“ (vgl. 2 Tim 1, 6)? Das von der Mehrheit erarbeitete Gutachten
stimmt jedenfalls zumindest der Apologie der „Confessio Augustana“ zu, dass man
geneigt ist, die Ordination „Sakrament“ zu nennen Ein Sakrament ist Zeichen der
Gnade. Hier sind das Mehrheits- und auch das Minderheitengutachten
ergänzungsbedürftig.
Der Autor, lange Jahre Professor für Systematische
Theologie in Bonn, arbeitete im vatikanischen Einheitsrat und am
Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn.
Quelle:
Die Tagespost vom 4.1.05
 |