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Nicht Religion, sondern Atheismus ist Opium für das
Volk
Überlegungen zur Notwendigkeit
transzendenter Bindung des Staates
Von Walter Rominger
I.
Als vor inzwischen gut zehn Jahren die Mauer verschwand und
zumindest in einem Teil der sozialistischen Staaten Lockerungen eintraten, da
wurde, vielleicht etwas vorschnell, von einem Niedergang des Sozialismus
gesprochen. Jedenfalls scheinen seine tragenden Gedanken nicht mehr
staatstragend gewesen zu sein und hat sich das Volk in der weit überwiegenden
Mehrheit, falls es den sozialistischen Ideen überhaupt jemals zuneigte, davon
entfernt. Diese Ideen erwiesen sich auf Dauer demnach nicht als tragfähig. Die
Entwicklung strafte die grundlegende Doktrin des Sozialismus lügen: Religion
ist Opium für das Volk. Um der Wirklichkeit zu entsprechen, müßte formuliert
werden: Sozialismus ist Opium für das Volk, und ein Staat auf Dauer nicht ohne
Religion (über)lebensfähig. Das bedarf einer näheren Begründung.
II.
Ein Staat kann nicht über längere Zeit ohne transzendente
Bindung bestehen. Erkennt ein Staat nichts über sich an und ist die ihn
tragende Staatsideologie rein immanent ausgerichtet, so wird er nicht
unbeschadet eine längere Zeit überstehen. Der nationalsozialistische Staat wäre
deshalb auch bei für ihn siegreichem Kriege kein tausendjähriges Reich
geworden, als was er in der Staatspropaganda ausgegeben wurde. Ihm wäre es ähnlich
ergangen wie dem Sozialismus, von dem er ja, wie schon der Name sagt, lediglich
eine Spielart ist, eins jedenfalls darin, atheistisch und damit antitheistisch
zu sein. Man mag durchaus den verlorenen Krieg als Bestätigung dessen ansehen.
Nicht das sog. “Dritte Reich” erwies sich als tausendjähriges Reich,
sondern viel eher das erste deutsche Reich, das Heilige Römische Reich
Deutscher Nation. In all seiner Unvollkommenheit und trotz aller nötigen Kritik
an ihm verstand es sich, wie der Name schon sagt, als von Gott – und dies
konnte nur der dreieinige sein – abhängig und ihm gegenüber verantwortlich
und zum Gehorsam verpflichtet. Es wurde bewußt als christlicher Staat
empfunden. Der Ausdruck christliches Abendland kommt nicht von ungefähr. Es war
demnach bewußt, daß der Staat einer metaphysischen Begründung bedarf. Man war
bestrebt, dieses Reich nach christlich vertretbaren Grundsätzen zu führen. Daß
es dabei zu Fehlentwicklungen kam, soll überhaupt nicht bestritten werden. Doch
hebt der falsche Gebrauch den rechten nicht auf.
Die Empirie bestätigt, daß ein Staat, der rein immanent
ausgerichtet ist, keine Zukunft hat. In negativer Hinsicht wurde dies am
Sozialismus gezeigt und von diesem unter Verweis auf den Zweiten Weltkrieg auf
den Nationalsozialismus geschlossen. Man könnte in positiver Hinsicht
beispielhaft darauf verweisen, daß im (antiken) Römischen Reich alle möglichen
Religionen geduldet waren. Christen gerieten deshalb in Konflikt mit dem Staat,
weil sie den Kaiserkult ablehnten, der für alle Bewohner des Römischen Reiches
als conditio sine qua non galt. Jedenfalls scheint das Bewußtsein geherrscht zu
haben, daß ein Staat nur existieren kann, wenn er nicht atheistisch ist. Im
antiken Athen wurde Sokrates im Grunde genommen wegen des Vorwurfs, er vertrete
Atheismus, hingerichtet. Man mag das, daß nach einer transzendenten Begründug
gesucht wird, mit der revelatio generalis bzw. universalis in Verbindung
bringen, welche das Neue Testament ja durchaus kennt (vgl. z. B.: Joh. 1, 9;
Apg. 14, 15 – 17; 17, 24 – 28; Röm. 1, 19 – 21. 28). Dazu gehören auch
die ethischen Inhalte der Zehn Gebote (vgl. Röm. 2, 14 f.). Daß dies keine
Heilsoffenbarung ist, sei ausdrücklich erwähnt. Von unserem christlichen Verständnis
aus betrachtet handelt es sich um falsche Religion. Die Absolutheit des
Christentums bzw. seinen Absolutheitsanspruch dürfen wir nicht aufgeben, und
wir haben begründet zu bezeugen, daß wir in Christus die Wahrheit haben und
damit unverrückbar das Wort Jesu gilt: “Ich [Jesus] bin der Weg und die
Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich” (Joh. 14, 6).
Trotz der Gültigkeit und Unverrückbarkeit dessen muß auch die Richtigkeit
dessen festgehalten werden, was Luther im Großen Katechismus zum Ausdruck
bringt, wonach noch nie ein Volk so gottlos gewesen sei, daß es nicht eine
Religion gehabt habe (1).
III.
Atheismus, ob nun als philosophischer oder vor allem als
praktischer, scheint im großen und ganzen ein neuzeitliches Phänomen zu sein.
Dennoch kennt das Neue Testament die gottlosen Epikuräer, die eine atheistische
Philosophie vertraten (“Laßt uns essen und trinken; denn morgen sind wir
tot!” 1. Kor. 15, 32), aber staatstragende Idee scheint der Atheismus in der
Antike nie gewesen zu sein, und als dann das Christentum im Römischen Reich
Staatsreligion wurde, konnte dies sowieso nicht mehr sein, und das Heilige Römische
Reich Deutscher Nation verstand sich als christlicher Staat. Dieser Zusammenhang
von Staat und Religion (Christentum in Europa) war bewußt. In der
nachreformatorischen Zeit, als die (sichtbare) Einheitlichkeit der Konfession
nicht mehr gegeben war, ging dies soweit, daß in einem bestimmten
Herrschaftsgebiet eine bestimmte Konfession galt, die sich nach der des
Herrscherhauses richtete. Dies sollte das Herrschaftsgebiet leichter regierbar
machen und zum Erhalt des Friedens dienen.
Europaweit sind wir, trotz des Abbröckelns des europäisch-asiatischen
kommunistischen Herrschaftsblocks in einer gänzlich anderen Situation
(2).
Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich als weltanschaulich neutraler, säkularer
Staat. In der Tendenz gilt dies für andere europäische Staaten genauso. Zwar
wird in der Präambel des Grundgesetzes (GG) noch ein Gottesbezug festgehalten
und ebenso – aber nicht obligatorisch – ein solcher in der
Vereidigungsformel für Präsident, Kanzler und Minister. Vor noch nicht
allzulanger Zeit erlebten wir es erstmalig, daß die Hälfte der
Bundeskabinettsmitglieder (einschließlich Kanzler) auf diesen Gottesbezug bei
ihrer Vereidigung verzichteten. Sie sind darauf also nicht behaftbar. Sie wollen
ganz bewußt Politik ohne Gott machen. Es ist dann auch nicht verwunderlich,
wenn die Präambel des Grundgesetzes mit ihrem Gottesbezug noch mehr zur
Leerformel wird, auch wenn das zum unveränderbaren Bestandteil des
Grundgesetzes gehört. Erlebten wir bereits durch die Studentenrevolte (1968
ff.) und die Wiedervereinigung (1989 / 90) einen Atheisierungsschub, so wurde im
Herbst 1998 ein weiterer kräftiger Atheisierungsschub angestoßen, mit von
solchen, die vor dreißig Jahren bei den revoltierenden Studenten waren. Die
Gesetzgebung deutet dies an (z. B. “Homoehe”). Allem Anschein nach ist eine
nachchristliche Prägung verhängnisvoller als eine vorchristliche. Zu beachten
ist auch, daß der Islam als nachchristliche Religion als solche schon
antichristlich und unentschuldbar ist. Dasselbe gilt für andere nachchristliche
Religionen auch (vgl. Apg. 17, 30 f.; Röm. 1 + 2).
Bewußter Atheismus, das wurde doch bereits bei den Überlegungen
zum Sozialismus und Nationalsozialismus deutlich, führt einen Staat in seinen
Ruin. Wohl haben wir keinen aggressiven und militanten, aber einen schleichenden
Atheismus. Er leitet sich aus keiner totalitären Ideologie her, viel eher aus
Liberalismus und Libertinismus. Das Ergebnis dürfte dasselbe sein. Denn der
Transzendenzbezug fällt weg. Die Ethik wird systematisch untergraben, und eine
natürliche Ethik, wozu die Zehn Gebote in ihren ethischen Aussagen zählen,
wird immer mehr zurückgedrängt zugunsten einer von Jürgen Habermas u. a.
geforderten und geförderten “Diskursethik”, die sich nicht an feststehenden
Normen orientiert, sondern an der herrschenden oder auch nur vorgeblichen
Meinung der Gesellschaft, die sich dann an rasch wechselnden Mehrheitsmeinungen
ausrichtet. Ganz unschuldig daran sind die Theologen Karl Barth, der jede natürliche
Ethik bestritt, und Rudolf Bultmann und Helmut Thielicke, die nur eine
Situationsethik kannten, nicht. Eine solche nimmt freilich die natürliche
Befindlichkeit des Menschen nicht ernst, da sie unter Verkennung, daß der
Mensch Sünder ist, davon ausgeht, der Mensch würde von selbst richtig handeln.
Das jedoch trifft nicht einmal für Christen zu. In Theologie und Kirche haben
Barth und Bultmann zum Atheismus beigetragen. Freilich wird man nicht einfach
eine theologische und kirchliche Entwicklung auf die gesellschaftliche und
staatliche übertragen können, aber unbeeinflußt lassen sie diese selbst in
einer Zeit, in der ihr Ansehen und ihr Einfluß und mit aufgrund ihrer
atheistischen Tendenz abnehmen, nicht.
Jedenfalls wird ein Volk, das aus jüdisch-christlicher
Tradition herkommt, mehr schuldig als eines, dem dieses hohe Gut nie anvertraut
war. Wir sind dabei, unsere abendländische Tradition, die eine christliche ist,
zu verlieren. Europa ist unter dem Kreuz geworden, also unter transzendentem
Bezug. Wenn sich die Staaten Europas im großen und ganzen lediglich als säkulare
Staaten verstehen, die über sich keine transzendente Größe anerkennen, dann
gehen sie den Weg der sozialistischen Staaten, da sie, diesen gleich,
atheistisch ausgerichtet werden, selbst wenn der Atheismus nicht vorgeschriebene
Staatsdoktrin wird. So kann ein Staat nicht überleben, sondern wird über kurz
oder lang ins Chaos stürzen. Der Einzelne wird sowieso nur noch zum Rädchen im
Getriebe; aber dahin geht die Tendenz. Europa, das das, was es geworden ist,
unter dem Kreuz geworden ist, kann nicht unter vollständiger Absehung davon auf
einer wackligen Monopolywährung, die ein Großteil überhaupt nicht will, und
welche keinen transzendenten Bezug hat und auch keinen haben will, weitergebaut
werden. Staatstragend können Güter dieser Welt nicht sein.
IV.
Entscheidende Aufgabe der Kirche(n) ist (Innere) Mission,
damit Menschen zum Heil gelangen. Aber damit fällt gewissermaßen ein wichtiges
Nebenprodukt ab. Der Atheismus wird durchstoßen. Mit Atheisten läßt sich nämlich
kein Staat machen und es stellt sich die Frage, wie lange noch die zehn
Gerechten (vgl. 1. Mose 18, 32) da sind, die das Verderben aufhalten. Um des
eigenen Bestandes willen kann ein Staat nicht auf religiösen Bezug verzichten.
Zum Abbau dieses transzendenten Bezuges hat bereits die Aufklärung beigetragen,
wobei dieser Abbau durch Romantik, Restauration und Neuluthertum (z. B. durch
Friedrich Julius Stahl in Preußen) zumindest vorübergehend aufgefangen werden
konnte. Zum Glauben Erweckte sind letztlich auch für den Staat von Nutzen.
Schließlich ist es ja auch ein beachtlicher Unterschied, wer Politik macht.
Aber allem Anschein nach ist unsere Kirche / sind unsere Kirchen (das gilt für
alle Konfessionen Europas) damit überfordert. Sie ist / sind diesseitsbezogen.
Damit wird / werden sie nicht allein am Heil des einzelnen, sondern auch mit am
Erhalt des Staates schuldig, der auf transzendente Bindung angewiesen bleibt,
auch wenn dies die meisten nicht mehr zu wissen scheinen und nicht wollen. Doch
mit ihrem jetzigen Gebaren wird /werden sie in trauter Zusammenarbeit mit
gottlosen Politikern zu Totengräbern nicht allein der Kirche(n), sondern auch
des Staates / der Staaten, weil beide für sich selbst den transzendenten Bezug
in Wort und Tat leugnen.
Quelle: Evangelische
Notgemeinschaft
(1) Vgl. Martin Luther, Großer
Katechismus, zum 1. Gebot, Bekenntnisschriften der evangelisch lutherischen
Kirche [BSLK], 8. Aufl. Göttingen 1979 [1. Aufl. 1930], Seite 563, Zeile 36 –
39: “Denn es ist nie kein Volk so rauchlos [=ruchlos] gewesen, das nicht einen
Gottesdienst aufgerichtet und gehalten habe”.
(2) Der Entwurf einer Grundrechtscharta
der Europäischen Union [EU] enthält in ihrer Präambel keinen Gottesbezug,
vgl. idea-Spektrum Nr. 39 / 2000 vom 27. September 2000, Seite 12.
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