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Wie die Erde zur Scheibe wurde
Von Philip Wolff
Das Mittelalter wird aus der heutigen
Perspektive gern als dunkle Zeit der Ignoranz und des frömmelnden Aberglaubens
gesehen. Doch dass etwa die Erde eine Scheibe sei, glaubte im Mittelalter
niemand. Diesen Mythos hat die Moderne geschaffen - zum eigenen Ruhm.
Am
Vormittag ist Reinhard Krügers Welt noch in Ordnung. Er sitzt im Garten und
blättert in alten Fassungen der Fahrtenbücher Marco Polos. Wie die Menschen es
damals wohl erlebten, wenn sie auf fremde Völker stießen? Solche Fragen
beschäftigen Mitte der 90er-Jahre den historisch versierten Romanisten - bis ihn
eines Mittags seine Tochter unterbricht: "Im Mittelalter glaubten die Menschen,
daß die Erde eine Scheibe sei, steht hier im Schulbuch. Ist das richtig
geschrieben?" Natürlich, "daß" mit scharfem "S". Reinhard Krüger nickt, greift
zu Marco Polo und liest, wie dieser um das Jahr 1260 so weit südlich des
Äquators angekommen war, dass er den Polarstern nicht mehr sehen konnte.
Krüger stutzt: Ja, hatte Marco Polo denn gar keine Angst, von der Erdscheibe
hinunterzufallen? Es sind die scheinbar unbedeutenden Momente, die festgefügte
Weltbilder ins Wanken bringen können. Das vorherrschende Bild vom Mittelalter
mit seinen religiös verblendeten Menschen zum Beispiel, die die Erde angeblich
für so flach hielten wie eine Hostie. Angespornt vom Schulbuch seiner Tochter
beginnt Krüger zu forschen. Zehn Jahre ist das her. Seitdem versucht der
Romanist, der an der Universität Stuttgart lehrt, das in Köpfen und Büchern
verankerte Missverständnis vom dummen Mittelalter auszuräumen. Mehr als tausend
Seiten hat der 54-Jährige mittlerweile darüber geschrieben, in zwei Bänden,
denen vier weitere folgen sollen. "Kürzere Richtigstellungen haben bislang kaum
Wirkung gezeigt", sagt er.
Was Krüger
erstmals in einer breit angelegten Untersuchung beweist: Kein kirchlicher oder
weltlicher Gelehrter in Spätantike und Mittelalter glaubte, die Erde sei eine
Scheibe - mit Ausnahme des ägyptischen Mönchs Kosmas Indikopleustes und der
Kirchenväter Laktantius und Severianus von Gabala. Deren Weltsicht galt jedoch
stets als abseitig und wurde im Mittelalter nicht gelehrt - bis neuzeitliche
Gelehrte verstreute Dokumente von Laktantius und Indikopleustes fanden, ihnen zu
unverdienter Aufmerksamkeit verhalfen und so den Mythos vom scheibengläubigen
Mittelalter schufen.
"Seit der
Aufklärung wollen wir uns als naturwissenschaftlich gebildet verstehen und
werten die Vormoderne ab. Was aber ist das für ein Wissensstand, der sich auf
Mythen gründet?" Vor allem die Hartnäckigkeit der Mittelalter-Lüge ärgert
Krüger. Schließlich ist er nicht der Erste, der sie widerlegt. Schon vor 13
Jahren hat der Bonner Skandinavist Rudolf Simek in seinem Buch "Erde und Kosmos
im Mittelalter" belegt, dass altnordische Schriften des 11. Jahrhunderts die
Erde ganz selbstverständlich als Kugel beschreiben. Und die Kölner Historikerin
Anna-Dorothee von den Brincken bewies unlängst, dass mittelalterliche Karten
keine Erdscheibe, sondern didaktische Vereinfachungen der Kugel darstellen.
Dennoch blieb die mittelalterliche Wissenschaftswelt für viele Historiker und
Laien bis heute unbekanntes Terrain.
Krüger
machte sich daran, das vernachlässigte Gebiet zu erforschen und durchsuchte als
Erster das gesamte in Frage kommende Schrifttum. Er ackerte sich durch 221 Bände
der "Patrologia Latina", der umfassenden theologischen Textsammlung des alten
Christentums. Er untersuchte, welche Autoren sich auf welche Vorgänger beriefen
- eine mühsame Lesereise durch mehr als 1800 Jahre Wissenschaftsgeschichte. Und
er fand etwa 90 einflussreiche mittelalterliche Gelehrte, die seine Zweifel an
der Dummheit des Mittelalters bestätigten. Auf der Gegenseite blieben nur jene
drei Außenseiter übrig, die von einer flachen Erde geträumt hatten. Vermutlich
hatte die Bibel sie dazu veranlasst: Da ist die Rede von den vier Enden der
Welt.
Tatsächlich
sei das Wissen über die Erdkugel, das seit dem antiken Philosophen Parmenides
als gesichert galt, nur einmal kurzzeitig in Gefahr gewesen, sagt Krüger. Um das
Jahr 300 nämlich, zur Zeit des Laktantius in der Spätantike, als die Kirche
unter Kaiser Konstantin, dem Großen, zur Staatsreligion erhoben wurde und sich
naturwissenschaftlich gebildete Patrizier und christliche Theologen die geistige
Führung teilen mussten. Die Versuche, ihre konkurrierenden Weltbilder
miteinander zu vereinen, radikalisierten damals manchen Denker. Der Kirchenvater
Laktantius polemisierte jedenfalls in seinen "Göttlichen Unterweisungen" gegen
die Verfechter der Weltkugel, "die glauben, dass es Antipoden gibt", also
Menschen auf der anderen Seite des Globus. Dort müsste allerdings "der Regen von
unten nach oben fallen und der Wald von oben nach unten wachsen". Doch diese
Aussage sei nur eine rhetorische Kapriole gewesen, um das griechisch-römische
Weltbild herabzusetzen, resümiert Krüger. Als Lehrmeinung habe sie im
Mittelalter keine Rolle gespielt.
So
konstatierte bereits der katholische Heilige und Kirchenvater Augustinus um das
Jahr 400 unmissverständlich, die Erde sei eine Kugel und stehe als "moles
globosa" im Zentrum des Weltalls. "Von diesem Moment an gab es keinen Zweifel
mehr, von welcher Form die Erde ist", sagt Krüger. Die leidige
Antipoden-Diskussion wurde ohnehin nur in theologischen Runden geführt: Ob der
Sintflut auf einer anderen Seite des Globus Menschen entkommen sein konnten? Ob
es weitere, besiedelte Kontinente gebe? Augustinus glaubte nicht daran, doch
sein Wissen um die Erdkugel blieb von dieser Frage unberührt. Christliche
Schöpfungsgeschichte und antike Kosmologie waren zu Augustinus' Zeit längst
ausgesöhnt. Dafür hatten verschiedene Kirchenlehrer gesorgt, Basilius von
Caesarea und sein Übersetzer Macrobius etwa. Bibelworte, nach denen "der Geist
Gottes über den Wassern schwebte", erklärten sie damit, dass der Heilige Geist
"wie ein Adler über seinem Ei brütete".
Ein Bild,
mit dem der Kirchenlehrer Basilius ein römisches Weltmodell aufgriff: den in
Sphären eingeteilten, kugel- oder eiförmigen Kosmos aus Erde (Eigelb), Wasser
und Gas (Eiweiß) sowie dem schalenfesten Firmamentum. "Bereits vor dem Jahr 360
war dieses Modell in Rom verbreitet", fand Krüger heraus.
Seine Suche
nach dem dunklen Mittelalter lief ins Leere. So waren bereits im 5. Jahrhundert
Platons "Timaios" und die Geographie des Ptolemäus, der die Erde als Zentrum des
Universums angesehen hatte, ins Lateinische übersetzt worden - und damit das
gesamte astronomische wie geografische Wissen der Antike. Dank Ptolemäus wussten
die Gelehrten damals sogar, auf welchen Breitengraden des Erdballs sich
nördlicher und südlicher Wendekreis sowie die Polarkreise befinden. Dieses
Wissen bedrohte keinesfalls das christliche Weltbild. Im Gegenteil: Bücher wie
Ciceros "Der Traum des Scipio", eine fiktionale Reise durch das Weltall, konnten
im Mittelalter kosmologisch wie theologisch schlüssig erläutert werden - als
erste Vision der Raumfahrt, aber auch als christliches Streben zu den Heiligen,
die man am Rand des Universums vermutete.
Und der
kleine Mann in den Provinzen, der des Lateinischen nicht mächtig war? Auch er
wurde mit dem Wissen um die Erdkugel versorgt, als nach dem 6. Jahrhundert die
politischen Führer und Kirchenhäupter der Völkerwanderungsstaaten begannen,
Ptolemäus in die Sprachen ihrer Volksstämme zu übersetzen. Alfred der Große etwa
erklärte um 850 seinen Angelsachsen, die Erde sei "so kugelförmig wie die
Schildbuckel, die an den Schildinnenseiten die Griffknäufe bilden". Und den
Spaniern erklärten Philosophen unter Berufung auf Isidor von Sevilla, die Erde
sei "rund wie der Ball, mit dem die Jungen auf der Straße spielen".
Ein helles,
modern denkendes Mittelalter fand Krüger auf seiner literarischen Expedition.
Darin mit Silvester II. einen Papst, der Abhandlungen darüber verfasste, wie man
Erdgloben herstellt und welchen exakten Umfang der Originalplanet hat. Krüger
stieß auch auf Kirchenlehrer wie Hermann den Lahmen, der Globen in seinem
Unterricht einsetzte. "Auf dieses weit verbreitete Wissensfundament baute der
Astronom und Mathematiker Johannes de Sacrobosco seine ,Sphaera mundi', den seit
dem 13. Jahrhundert wichtigsten Text für den Astronomieunterricht an allen
europäischen Universitäten", sagt Krüger.
Doch
ausgerechnet mit dem Beginn der Neuzeit, in den ersten Vorwehen der Aufklärung,
begann die heile kugelförmige Welt zu bröckeln. Als Kolumbus 1492 Amerika
entdeckte, war zwar die theologische Antipoden-Frage, ob entfernte Kontinente
besiedelt sein könnten, empirisch beantwortet. Doch als dann Nikolaus Kopernikus
die Erde aus dem Zentrum des Kosmos rückte und das ptolemäische Weltbild
korrigierte, hatten die mittelalterlichen Vordenker ihre Schuldigkeit getan, sie
wurden vergessen oder unterschlagen. "Kopernikus zitiert seitenweise Sacrobosco,
gibt dessen Gedanken aber als eigene aus. Damit bestand der wohl wichtigste Text
der frühen Neuzeit zu großen Teilen aus mittelalterlichem Wissen", sagt Krüger.
So war es
zunächst die Rhetorik der Auslassung, ein Verschweigen der mittelalterlichen
Quellen, das die "kopernikanische Wende" als historischen Bruch erscheinen ließ:
hin zum modernen Weltbild mit der Sonne im Mittelpunkt. Kopernikus hätte es
nicht nötig gehabt, seine Leistung auszuschmücken und auch die kugelförmige Welt
als neue Idee zu reklamieren - ein heliozentrisches Weltbild hatte im
Mittelalter wirklich niemand vertreten. Auch von den antiken Philosophen hatte
nur Aristarch von Samos so weit gedacht und war niedergeschrieen worden. Und
doch wertete der polnische Astronom seine Vorgänger ab und zitierte 1543 im
Vorwort zu seinem Hauptwerk "Von der Umdrehung der Weltkörper" als erster
maßgeblicher Gelehrter überhaupt den vergessenen Laktantius: Von dessen
Zuschnitt seien auch die Kritiker seines Weltbilds, schrieb Kopernikus. Und so
wurde mit Laktantius ein seltener Erdscheiben-Theoretiker zum Vertreter der
vormodernen Gelehrtenschaft, die Kopernikus damit für dumm verkaufte.
Zugleich
half der Buchdruck, das Wissen neu zu sortieren. "Vor allem Kopernikus und sein
Gefolge wurden veröffentlicht, die mittelalterliche Überlieferungstradition
dagegen kaum noch fortgesetzt und von den Renaissance-Gelehrten mit nebulösen
Hinweisen auf die Tradition der Alten regelrecht abgetan", sagt Krüger.
Die
unwissenden Alten, wie der Kirchenvater Augustinus, hätten ja noch an die
Erdscheibe geglaubt, log bereits 20 Jahre nach Erscheinen von Kopernikus'
Hauptwerk der hessische Mediziner Johannes Dryander in einem Vorwort zu
zeitgenössischen Entdecker-Berichten. Dass Augustinus die Existenz von Antipoden
bezweifelt hatte, wurde ihm nach der Entdeckung Amerikas schwer angelastet. Mehr
noch: Es wurde ihm daraus der falsche Vorwurf gestrickt, er habe eine flache
Erde gepredigt.
Krüger ist
empört. "Da schrieb einer vom anderen ab und jeder erfand neue, angebliche
Erdscheiben-Theoretiker unter den mittelalterlichen Gelehrten", sagt er. Das
schlimmste Pauschalurteil aber wurde Anfang des 17. Jahrhunderts gefällt, als
der Herausgeber der "Acta Sanctorum", einer Heiligenlegenden-Sammlung, schrieb:
"Die meisten unter den Kirchenvätern und der Philosophen bis zum 15.
Jahrhundert" seien Anhänger des Irrglaubens an eine flache Erde gewesen. Eine
Behauptung, die in der Aufklärung Konjunktur bekam.
Im Bemühen,
das neuzeitliche Wissen als Resultat ihrer Gegenwart darzustellen, stöberten
viele Aufklärer nach Hinweisen auf die Dummheit vergangener Epochen. So
entdeckte zu Beginn des 18. Jahrhunderts der französische Gelehrte Bernard de
Montfaucon in Florenz eine seit fast 1200 Jahren unbeachtet gebliebene
Streitschrift - die "Christliche Topographie" des ägyptischen Mönchs Kosmas
Indikopleustes. Darin hatte der ehemalige Handelsreisende Indikopleustes um 550
nach Christus einen biblischen Kosmos entworfen, nach dem die Erde den Boden
eines gewaltigen Tabernakels bildet, der sich im Norden zu einem Berg auftürmt.
Hinter diesem verschwinde die Sonne einmal täglich, fabulierte er. Ausgerechnet
diesen Text publizierte und kommentierte Montfaucon nun als Beweis für ein
fundamentalistisch bibeltreues Kosmologieverständnis der gesamten Spätantike und
des Mittelalters. Ein Wendepunkt, von dem an die beiden Epochen rückblickend
völlig neu betrachtet wurden: Bis in heutige Schulbücher und ins Allgemeinwissen
hinein wirkt zum Beispiel die Tradition von Abhandlungen wie Thomas Paines "Age
of Reason" von 1794/95 oder Washington Irvings "The Life and Voyages of
Christopher Columbus" von 1828. Beide berichteten haarsträubende Unwahrheiten.
So erklärte
der britische Publizist Paine den irischen Missionar Feirgil von Aghaboc, der im
8. Jahrhundert gelebt hatte, zu einem frühen Märtyrer im Geiste der Aufklärung.
Feirgil sei auf dem Scheiterhaufen gelandet, weil er verbreitet habe, die Erde
sei eine Kugel. Bis heute lebt diese Legende fort. Dokumentierte Wahrheit
hingegen ist, dass der angelsächsische Bischof Bonifatius seinen Widersacher
Feirgil zwar bei Papst Zacharias anschwärzte, weil Feirgil die Existenz von
Antipoden predigte. Zacharias ließ den Mann jedoch nicht verbrennen, sondern
erhob ihn zum Bischof: Als Vergil von Salzburg überlebte Feirgil den
Angelsachsen Bonifatius um viele Jahrzehnte.
Ein ähnlich
falsches Zeugnis vom Wissensstand der Europäer legte 1828 der amerikanische
Schriftsteller Washington Irving ab und erdichtete: Spanische Wissenschaftler
hätten einst Kolumbus' Reisepläne angezweifelt, denn wer auf der gekrümmten
Erdscheibe so weit "nach unten" fahre, könne von dort schwerlich wieder "nach
oben" gelangen. "Eine Legende, die belegen sollte, dass die dummen Spanier einst
- im Zuge der bolivianischen Befreiungsrevolutionen - zu Recht aus Amerika
vertrieben worden seien", sagt Krüger.
In diese
Tradition fälschender Geschichtsschreibung reihten sich anschließend
Aufklärungsmythen von angeblichen Meutereien, weil Kolumbus' Mannschaft
gefürchtet habe, von der Erdscheibe zu fallen. "Was Schülern auch heute noch
gern erzählt wird", sagt Krüger, "und zwar nur, weil ein Geschichtsbild
einfacher zu verstehen ist, in dem die Alten dumm und die modernen Menschen klug
sind."
Doch noch
mehr als die Vereinfachung haben jene mutwilligen Brüche der Erinnerung
geleistet, die eine Ordnung der Geschichte in Epochen wie Mittelalter,
Renaissance, vor- und nachkopernikanische Zeit ermöglichen. "Sie helfen, das
Jetzt aufzuwerten. Im Alltag ebenso wie in der Wissenschaft", sagt Krüger.
"Allerdings um den Preis eines völlig falschen Selbstverständnisses der
Gegenwart."
Quellen:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltraum/0,1518,381627,00.html
http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltraum/0,1518,381627-2,00.html
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